Eine Bahn fährt durch die Vierte Wand
Illusionsstörungen, Brüche im traditionellen Gefüge von Spiel und Wirklichkeit gehören seit dem 20. Jahrhundert zum festen Repertoire von Film und Theater. Gerne wird etwa die „Vierte Wand“ (die Kinoleinwand beziehungsweise die zum Zuschauerraum hin tatsächlich offene, aber als geschlossen vorgestellte Seite der Bühne) „eingerissen“, um Irritationen über den Grenzverlauf zwischen Realität und Fiktion auszulösen und letztlich die Fiktion insgesamt noch wirklicher, authentischer erscheinen zu lassen. Das Publikum direkt anzusprechen oder einzubeziehen, die Schauspieler erkennen zu lassen, dass sie Teil einer fiktiven Welt sind oder spontan aus der Rolle fallende Schauspieler sind nur drei der dabei möglichen Kunstgriffe.
Bei Aufführungen, die von vornherein keine konkret lokalisierbare „Vierte Wand“ zur Kennzeichnung des Fiktiven haben, weil sie eben nicht auf einer – gleich wie gearteten – Bühne ablaufen, sondern sich in die reale Welt einmischen, stellt sich die Frage grundsätzlich anders. Statt der „Vierten Wand“ stehen zwischen Publikum und SchauspielerInnen dann diejenigen, die nichts von der Aufführung wissen, unfreiwillig zu ZuschauerInnen, StatistInnen oder gar MitspielerInnen werden und eine Welt, die nicht als Bild gedacht war aber trotzdem eines abgibt.
Wird auch noch der örtliche und zeitliche Kontext der Fiktion aufgebrochen, ausgeweitet, verwischen sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bis zur Ununterscheidbarkeit der beiden. Wie beim Funkkopfhörer-Projekt Kino im Kopf, das der Performance- und Medienkünstler, Schauspieler und Kurator Oliver Hangl für die Murtalbahn inszeniert. Am 22, 23. und 24. Juni ab 17:23 Uhr wird die Bahnstrecke zwischen Unzmarkt und Murau zur Kulissenwelt für eine „Neuverfilmung“ des Romans Der Knochenmann von Wolf Haas. Wie bereits in der Wiener Straßenbahn geschehen, nimmt das Publikum in einem öffentlichen Verkehrsmittel Platz, ist mit Funkkopfhörern ausgerüstet und kann so den Ton einer inszenierten Handlung hören, die jenseits der Fenster – im Landschafts- beziehungsweise Stadtraum – abläuft, sich dort mit der uninszenierten Realität vermischt. Ein dramatisches wiewohl ebenfalls in die alltäglichen Abläufe eingeschleustes Finale findet in der Innenstadt von Murau statt.
Im Auseinanderdividieren von inszenierter Handlung und realem Hintergrund, von dramaturgisch festgelegten und zufälligen Ereignissen bleibt der einzelne Betrachter mit sich allein. Er wird zum solipsistischen Cutter, der sich sein Kino im Kopf selbst zurechtschneidet. Dabei verbiegt er filmische und reale Elemente auf eine Weise, dass sich ein für ihn schlüssiges, seiner Wahrnehmung entsprechendes Ganzes ergibt. Seiner Fantasie ist es schließlich auch anheimgestellt, den „Film“ zu ergänzen, weiterzuspinnen. Am Ende gibt es nichts mehr, das nicht inszeniert wäre. Wir wissen ja seit André Heller, wo sich die wahren Abenteuer abspielen.
Ulrich Tragatschnig, Katalogtext REGIONALE XII